Logbuch der CROCO, geschrieben von Dr. Ernst Gut

Teil 12,


12. Kapitel. In dem der Herr des Crossodils in eine seemännisch haarsträubende Situation gerät, eine Wunderheilung am eigenen Leibe erlebt und unverhofft in der Wildnis der Schären einem deutschen Werbeplakat wiederbegegnet.

Log 1.7.

"Was für ein lausiger Tag", hätte mein hochgeschätzter Nachbar Tomas S. aus KN gesagt. Angefangen hat dieser lausige Tag wenige Minuten nach Mitternacht damit, dass ich als letzte Verrichtung vor dem Schlafengehen die Landschuhe vom Steg ins Boot holen wollte. Es war stockdunkel, ich hatte im Laufe des Abends 2 nulldreier Bier sowie den größeren Teil einer Flasche französischen Chardonnay zu mir genommen und ich war müde. Schon beim Ansetzen des Schritts vom hohen spitzen Bug hinunter aufs feucht schimmernde Holz des Schwimmstegs wusste ich, dass irgendetwas im Bewegungsablauf nicht so sein würde wie normal (schon das "normale" Anlandgehen ist ein jedes Mal unangenehmer Akt). Und etwa 100 Millisekunden später rauschte ich auch schon zwischen Krokodilschnauze und Steg ins kalte, dunkle Brackwasser des Hafens. Reaktionsschnell und muskelstark war ich weitere 600 Millisekunden später wieder wenigstens im Stütz auf dem Steg. Die Beine zog ich dann gemütlicher nach. Fluchend und die Besorgniskundgebungen Ilonas männlich-selbstherrlich abwimmelnd stolperte ich ins Cockpit, um die nassen Klamotten abzuwerfen. Der Schmerz im linken Unterarm und Handgelenk kam dann langsam vor dem Einschlafen. Trotz sofortiger Einreibung mit Oma Dickreiters Schmerztonikum war die linke Hand dann am nächsten Morgen gebrauchsunfähig, so weh tat jeder Versuch, sie zu benützen. Eine weitere Einreibung mit den kundigen und tröstenden Händen von Ilona sowie eine Krankheit und Verletzung anzeigende Elastikbinde verschafften Linderung, aber auch endgültig Krankheitsgefühl.

Wie soll das weitergehen? Gerade als Einhandsegler ist man auf mindestens 2 gesunde Hände dringendst angewiesen. Auf der kurzen Motorfahrt in den Innenhafen (in der merkwürdigen, an Campingplätze mit Hunderten leerstehenden Wohnwagen von Dauercampern erinnernden Marina wollte ich nicht bleiben) sowie beim etwas langgezogenen Abschied von Ilona am Bahnhof verdüsterte sich meine Stimmung. Hatte ich schon gestern Anwandlungen gehabt, einfach mit Ilona nach Hause zu fahren, war ich jetzt sicher, dass meine Seereise hier ihr vorläufiges Ende finden musste. Das Handgelenk war gebrochen, soviel stand nach hypochondrischer, von neurologischem Nichtwissen gestützter Selbstdiagnose fest.
Kaum war der Zug mit Ilona außer Sicht, machte ich mich zu Fuß auf den Weg ins Krankenhaus, diagnostische Bestätigung und einen Gips suchend. Freundliche, aber distanzierte Aufnahme in der Notfallambulanz. Mein beiläufig dahergemurmeltes "Sesamöffnedich", ich sei ärztlicher "Kollege" aus Deutschland entlockte der Ambulanzschwester nicht einen Wimpernschlag. Soso,die Schmerzen seien "Medium", dann solle ich gegen halb sechs, also in etwa 4 Stunden wiederkommen. Ach ja, fast hätte sie es vergessen, ein "Einstandshonorar" (deposit) von umgerechnet etwa 300 Mark sei in jedem Fall abzuliefern, egal ob es nun beim kollegialen Handschlag bliebe oder mit der Notamputation meines Armes endete. Im Wissen um die Schwere meiner Verletzung trottete ich zum Hafen, legte die letzten anständigen Klamotten zurecht für den "Arztbesuch" und überdachte diese Wendung meiner großen Reisepläne.
Zwei Stunden vor dem Termin wollte ich zumindest klinisch eine Diagnoseüberprüfung vornehmen und nahm die Bandage ab. Kein Spontanschmerz, kaum Schwellung. Ein sonnengebräuntes, schlankes, gesund aussehendes Männerhandgelenk bot sich meinem prüfenden Blick. Nun, dann könnte ich auch das zweite diagnostische Frakturkriterium testen: Funktion.
Vorsichtiger Einsatz als Hilfs- und Haltehand, dann Bewegungsübungen. Nur noch bei größeren Bewegungsausschlägen mäßiger Schmerz. Also: Das kann keine Fraktur sein. Drum: Termin absagen, morgen, dann erneut "untersuchen" und dann entscheiden, ob die Investition in einen schwedischen Arztkollegen nötig oder lohnend scheint. Was ich hieraus für meine berufliche Erfahrung mitnehme: HEILUNG DURCH (ein möglichst hohes) HONORAR ist möglich!

Worin ich auf dem zweiten Heimweg vom Krankenhaus investierte: 1 Haushaltsleiter (weiß, klappbar) für den Steg sowie diverse alkoholfreie Getränke für den Kopf, sozusagen als Sekundärprophylaxe. Jetzt steht meine vollkommen unseemännische Haushaltsleiter provokant vor meinem Racer am Steg. Der Umstieg von und an Bord ist paradiesisch viel leichter und die Leiter habe ich auch schon getauft: Stairway to haven.

Stairway to haven.

Abb.1: Stairway to haven.


Log 2.7.

Mein unseemännisches Beispiel macht Schule. Heute Morgen trabte ein deutscher Freizeitkapitän stolz mit seiner neu erworbenen Bugleiter (allerdings Marine-, nicht Haushaltsmodell) den Steg entlang zu seinem hochbordigen Kahn. Ich habe den größeren Teil des Tages damit zugebracht, die Wäsche zu versorgen und auch in entfernteren Schiffswinkeln Klarschiff zu machen. So wohl wie ich mich damit jetzt fühle, war das offenbar nötig. Auch nicht schlecht (nach Abklingen der Abschiedsdepression) alleine schalten, walten und faulenzen zu dürfen. Oskarshamn ist ein freundlicher Provinzort mit einem netten Stadthafen. Die Gotlandfähre sorgt zweimal am Tag für Abwechslung, die Zahl der anderen Hafengäste hält sich trotz Feriensaison in angenehmen Grenzen.

Log 3.7.

Morgens bin ich zu faul zum lossegeln. Ich lese, liege faul auf den neuen Cockpitpolstern in der Sonne. Am frühen Nachmittag unternehme ich einen Spaziergang an die Küste, auf der Suche nach einer Badestelle. Beim Anblick der Schären in der herrlichsten Sommersonne will ich auf einmal raus in all die Herrlichkeit. Zurück zum Hafen, schnell Schiff klar gemacht, los. Das ist das schöne am Seezigeunerleben, dass man einem Impuls zum Lossegeln auch nachmittags um 4 noch nachgeben kann. Am Steg treffe ich kurz vor dem Ablegen noch einen redseligen Landsmann aus Flensburg. Was das für ein Schiff sei, fragt er. Was, aus Flensburg? Gibt's doch nicht. Und was das wiegt? Na ja, seine Bandholm 28 wiege dreieinhalb Tonnen. So werde heute gar nicht mehr gebaut. So solide. Sagt er. Na ja, auch ich habe mal Gewicht und Qualität gleichgesetzt bzw. verwechselt und Leichtbau für eine infame Betrügerei geldgieriger Schlamperfabrikanten gehalten. Ich hab einem Impuls widerstanden und dem Landsmann keinen Vortrag gehalten, sondern bin einfach losgefahren.

Draußen weht ein kräftiger Ost um 4, der Wind ist warm, die Nachmittagssonne brennt auf meine leider schon sehr rote Nase.
Das Navigieren gestaltet sich wieder trickreich, aber nicht wirklich problematisch. Die relative Enge des Fahrwassers beeindruckt bald nicht mehr. Schließlich hacken die verborgenen Unterwasserfelsen ja nicht aktiv nach einem. Man muss nur ausweichen.

Die Schäre lockt.

Abb. 2: Die Schäre lockt.


Nach nur 8,5 Seemeilen komme ich in Figehamm an. Es ist ein bisschen wie Paskallavik, nur voller. Dazu kommt als örtliche Besonderheit eine Fabrik, die sich in erster Linie durch ein lautes Gebläse bemerkbar macht. Der Fremdenführer von Figehamm erklärt die Fabrik und den Lärm: "Die Firma ist führend in der Herstellung von PRESPAN, einem Füllmittel für die Elektroindustrie". Mich tröstet das nur wenig und immer wieder grüble ich an diesem Abend darüber nach, was Füllmittel in der Elektroindustrie wohl zu bedeuten haben. Von einem "Geheimtipp" war im Reiseführer die Rede gewesen und wie schon öfter auf Reisen habe ich den Eindruck, dass es sich um einen etwas überschätzten "Geheimtipp" handelt.
Neben mir hat ein Folkeboot festgemacht mit einem Pärchen Mitte Zwanzig, dem ich schon in Ystad begegnet war.

Log 4.7.

Die Youngsters vom Folke sind die einzigen auf der Reise, die es es schaffen, länger zu schlafen als ich (heute halb zehn). Die beiden haben wie schon in Ystad wieder bis spät in die Nacht gewürfelt unter ihrer Kuchenbude und dabei glücklich gekichert und gegluckst, sodass ich fast ein wenig neidisch wurde in meiner Einhandseglerherrlichkeit.

Wieder auf dem Schärenweg: SO 4 und strahlende Sonne machen manchen Segler übermütig. Rotgrünrotgrün auf tausend Tonnen, ist doch alles klar, wo soll's sonst schon lang gehen? Tonnenzählen in der Karte und Segel bedienen mit eineinhalb Händen ist mir auf die Dauer zu anstrengend. Also lieber Segel führen. Und was kommt da an, jetzt 200 m vor mir? Ein Folke, zwar nicht die klassische Nordische Version, sondern der "optimierte" IF-Typ, einerlei. Der wird vernascht! Segel dicht und ran an den Schweden. Ich hole zügig auf, zum Überholen ist es aber etwas eng. Immer wieder muss ich die Segel flattern lassen, um nicht zu dicht aufzufahren und vergesse dabei endgültig, mich in der Karte zu orientieren. Aber zum Glück ist ja immer noch der Schwede vor mir mit zwei über die Karte gebeugten Leuten. Bald geht es am Atomkraftwerk (wieder eine unvermittelt in der unberührtesten Natur auftauchende Industrieanlage) nördlich Figehamm vorbei, das Fahrwasser wird vorübergehend weiter, das Croco geht in Luv vorbei (im aus Gründen der seemännischen Etikette vorzuziehenden Lee war leider kein Platz).
Ich ernte die üblichen unbeteiligten bis abweisenden Blicke der Überholten, dafür weiß ich's jetzt wenigstens und endlich im direkten Vergleich: Das Kroko ist schneller als das Folke. Ist vielleicht ein bisschen kindisch, war mir aber wichtig zu wissen. Unser "Gegner" holt auf einer Vorwindstrecke zwar vorübergehend auf, indem er ausgebaumt fährt (warum setzt sich diese gegenüber dem Spi einfache, aber trotzdem wirksame Maßnahme nicht allgemein mehr durch?), kommt jedoch nie mehr näher als eine halbe Meile. Seit heute läuft das Croco auch logmässig etwa einen Knoten schneller.
Ich habe die Betriebsanleitung nach neuerlichem Studium so weit durchdrungen, dass ich am sogenannten "Korrekturfaktor" so lang spielen konnte, bis die Werte von Logge und GPS einigermaßen zusammengepasst haben. Jetzt sind mühelos 6 Knoten bei 4 Beaufort möglich oder auch 7 bei Halbwind.

Was lerne ich daraus fürs Leben? Einfach am Korrekturfaktor drehen, schon fühlt sich alles flotter an!

Es ist ganz schön was los auf dem Schärenweg, für hiesige Verhältnisse. Segler und vor allem Motorer. Der Schwede liebt Motoren. Zu Lande und wenn er Geld hat als BMW, bei weniger Geld und mehr Phantasie als aufgemotzte Corvette, bevorzugt schwarz und mit Luftsaugschacht auf der Kühlerhaube. Zu Wasser egal wie, nur mit möglichst viel PS. Nicht weit vor dem vorgesehenen Etappenziel Västervijk entschließe ich mich, von der Hauptroute abzubiegen. Ich will noch nicht raus aus dieser traumhaften Natur mit ihren tiefgrünen Fjorden, den Felsen und Felsinseln in rot und braun, den Kiefernwäldern.
Die Karte behauptet an einer verdächtig felsgespickten Abzweigung, da gehe es durch, also wird's schon stimmen. Stimmt auch. Auf Vorwindkurs geht es unangenehm flott immer weiter hinein in einen mal zwanzig, mal fünfzig Meter breiten Fjord. An den Ufern keine Spuren menschlicher Besiedlung, auf dem Wasser kein anderes Fahrzeug. Abenteuerfeeling kommt auf. Binnenverhältnisse, Landschaft wie im Prospekt. Fast zu heiß für meinen Geschmack (ich bin kein Mittelmeertyp, es sei denn, der Weißwein).
Nach längerem Suchen, Abwägen, Zaudern biege ich in eine winzige Bucht aus dem Fjord ab. Mache an einer angejahrt wirkenden Boje fest. Ferienhäuser am Ufer. Leute. Werden die Eingeborenen freundlich sein? Werden sie mich verjagen. Übers Wasser höre ich deutsche Sprachfetzen von den angelnden Männern (...wenn Du auf Aal gehst...). Also keine Territorialansprüche wahrscheinlich.

Schwimmen, Klarschiff, sonnen auf den Luxuspolstern, eingesperrt auf meinem Kahn, herrlich. Dieses Abendlicht macht mich noch narrisch mit seiner Schönheit. Grün und rot (die Holzhäuser) und blau (der Himmel), wie gemalt, nein, schöner. Kein Fabriklärm, kein Hafenmeister mit Kassenzettel, kein Landstrom, kein Landgang.

Heut´ abend muss ich tapfer sein,
bin in den Schären ganz (fast) allein,
um mich herum nur die Natur,
was mach ich mit dem Abend nur?
Ein lauwarm Fläschchen mach ich auf,
mein Rillo der sorgt für den Rauch,
und später wird zusamm´ngerührt,
was die Bilge in sich führt.
Ein kluger Mann, der nicht mehr rennt,
sondern auf dem Schiffchen pennt.
(altes nordisches Seefahrergedicht)

Log 5.7.

Nach einer wunderbar durchschlafenen Nacht habe ich erneut einen strahlenden Sommertag vorgefunden. Erst mal eine Runde ums Boot geschwommen, dann Frühstück. Käse und Wurst schmecken langsam etwas gammelig, gut ist der schwedische Kaffee. Ängste wg. letzter Packung Mövenpick im Bordvorrat aus Flensburg waren unbegründet.

Was auch komisch schmeckt, ist das Wasser. Plastik. Hatte Ilona wohl doch recht mit ihrer diesbezüglichen Bemerkung kurz vor ihrer Heimreise.

Was tun an so einem schönen windigen Sommertag, wenn das Etappenziel nur 3 Seemeilen Luftlinie entfernt liegt? Rumsegeln, einfach so. Ich kann ja mal meinen Fjord weiter erkunden. 4 Windstärken (SO) von achtern, ein Kinderspiel. Mit 5-6 Knoten mühe- und schwerelos durch die vielleicht schönste Landschaft der Erde. Der Echolot zeigt bis 50 m an, mindestens 25 m noch 5 m vom Ufer. Links und rechts nur Wald und Felsen. Ab und zu ein Häuschen mit Bootsanleger, zum Heulen schön. 5, 6 Seemeilen geht die flotte Vergnügungsfahrt ins Land hinein, der Wind hat zugelegt und ich ahne, wie der Weg zurück sein wird: Sportlich. So ist es dann auch. Im hintersten Zipfel des namenlosen Fjords bei einem Örtchen namens Verkebäck geht es ran an den Wind und schon geht der Sport los. Noch fahre ich Vollzeug, je nach Bug liegt die Fahrt bei fünfeinhalb (bb) oder sechseinhalb (steuerbord) Knoten (Oh Logge!).
Der Wendewinkel liegt meist bei 75 Grad, auch mal darunter. Als bei zunehmendem Wind auch Höhe kratzen nicht mehr hilft, um den Kahn halbwegs aufrecht zu halten (der Wind bläst jetzt mit 5 voll aus der Zielrichtung), ziehe ich das erste Reff rein. Es geht wie immer zügig und ohne Klemmerei. Klasse Patent!

Der Wendewinkel liegt jetzt eher bei 80 Grad, der Speed wird nur unwesentlich geringer. Heieiei. Ich glaub 100 Wenden waren es schon, bis ich zurück im Hauptfahrwasser war. 100 Wenden, bei denen ich viel Bootsbeherrschung solo gelernt habe. Z.B. Kurbeln weg, das Loswerfen der Schoten geht so viel leichter. Dafür muss der letzte Zug an der neuen Leeschot halt sitzen, bevor der Wind nach der Wende wieder ins Segel kommt. Wehe, wenn ich zu zögerlich durch den Wind gehe, gar verharre und den Kopf unvorsichtig oben habe. Da gibt's Ohrfeigen von der Baumnock aus Alu. Links, rechts, noch mal links, damit Du nicht glaubst, dies alles sei nur ein Spiel, oder zumindest ein harmloses Spiel.

Aber ich hab gelernt. Jetzt sitzt´s.
Auf Västervik zu wird der Verkehr dichter. Ein gefühl- und verstandesloser Landsmann motort. 12 m, GFK mit Mahagoni, "solides Fahrtenschiff", er über Rad und Elektronik gebeugt (Waypoints beachten!), sie (überflüssig) zusätzlich über der Karte. Im Sparösund erkenne ich plötzlich ein Motiv der Volksbank-Werbung wieder: Wir machen den Weg frei. 20 Meter Fahrwasser, links und rechts 30 Meter hoher, sonnendurchglühter Fels. Hedaheehh! Durch, ich kann nicht bremsen mit meinen Segeln, links und rechts an den Motorern mit sechseinhalb Knoten vorbei.

Wir machen den Weg frei. Ihre Volks- und Raiffeisenbanken.

Abb. 3: Wir machen den Weg frei. Ihre Volks- und Raiffeisenbanken.


In Västervik angekommen weiß ich nicht mehr, ob ich schlicht einen Sonnenstich habe oder ob ich das Glück habe, das schönste zu erleben, was ohne Zuhilfenahme chemischer Substanzen möglich ist. Das ist Glück, nicht nur "schön". In der Klinik nennt man Leute mit meinem Transmitterniveau manisch und gibt ihnen dämpfende Medikamente. Nur, dass das hier wirklich ist, und der Transmitterpegel dem Erlebten angemessen.

Im Hafen winkt mich lockend eine blonde junge Lady auf einen freien Platz ein. Der Platz liegt ungünstig zur Welle, außerdem hat es Dutzende anderer freier Plätze. Aber wer kann da schon widerstehen? Der Anleger klappt gut, trotz noch frischem Wind. Sogar den Palstek zur Leinenverlängerung auf der Heckleine unter Last (voll Wind drauf) habe ich mit einigermaßen Eleganz hingekriegt.
"Duhasseinsönesboot" sagt der Däne, der beim Belegen der Bugleinen hilft. Wie Recht er hat.

Boot aufräumen. Unterwegs hat es ganz schön gescheppert in meinen Kästen und Staufächern ("Das Schlimmste ist, wenn man dieses Klappern und Scheppern und Klirren hört und man weiß, es sind Flaschen in Gefahr und man kann nichts, aber auch gar nichts tun", murmelt der Freizeitkapitän in mir im Selbstinterview).
Ahnungsvoll öffne ich die Bilge. Braune Brühe. Das wird doch nicht der Sherry sein? Routiniert stecke ich den Finger in die Brühe, dann in den Mund. Spülwasser. Kam mir doch gleich bekannt vor, die Farbe. Und ich hatte morgens noch gedacht, das bisschen brauchst du nicht ausleeren, ist eh nicht weit bis Västervik.
28 Seemeilen sind es dann geworden, und das bei 3 SM Luftlinie. Muss man erst mal schaffen, soviel Umweg.

Die bisherigen Anwärter auf "schönster Segeltag des Jahres" müssen sich nun um die Plätze 2 und 3 bemühen.

Vor Västervjik

Abb.4: Vor Västervjik


Abends gehe ich noch in eine Kirche, russischer Chor auf Tournee, "bekannt", wie fast alle reisenden Ensembles. Meine Kirchenbank bewegt sich, im Rhythmus eines 25 Fuß Schiffes, wenn ich die Augen schließe.

6.7.

Kein Log. Tagebuch. Urlaub, vom Boot, von der Seefahrt. Hole meinen Freund und Kollegen "Waldi" in Stockholm vom Flugplatz ab.

Mietwagen. Nicht ganz uneigennützig. Hatte Lust drauf. VW Bora, silbermetallic, 90 km/h erlaubte Höchstgeschwindigkeit. Entspanntes Cruisen durch "meine" Landschaft.

Wälder, Felsen, Seen. Im Radio: Joe Cocker, Sinead o´ Connor, am liebsten aber Abba. Does your mother know? Take it nice and slow.
Warum ich soviel schreibe? Ich weiß es nicht. War noch nie so. Hatte aber auch noch nie 1. soviel Zeit 2. die kleine Schreibmaschine stets griffbereit. Nicht unbedenklich: Der mühelose Versand der Texte. Lässt schon mal eine gewisse Art von Exhibitionismus bzw. einfach Eitelkeit rauskommen. e-mail-Kultur, neues Medium, muss man Umgang mit lernen. Mit einem Brotmesser kann man sich als Ungeübter auch schneiden. Warum ich auf dieser Reise "soviel" trinke? Ich weiß es auch nicht. Bzw.weiß es doch. Es ist so schön. Gestern Abend zum Beispiel. Beim Bereiten der Omelette surprise aus den Backskistenresten 1 Dose Leichtbier (gehört einfach zum Kochen). Zum Omelette 1 Glas Weißwein. Nach dem Spülen, ausgestreckt auf die Luxuspolster, vor mir das Meer und den Vollmond: Noch eins. Delirant schön. Irgendeinen Tod muss man sterben. Ich nehme den.

In Stockholm erst mal zum falschen Flughafen gefahren. Kam mir gleich seltsam vor. Nur eine alte Propellerverkehrsmaschine auf dem Rollfeld. Bisschen wie Riga oder russischer Inlandsflugplatz. Weiter 40 km nach Norden dann der Richtige: Arlanda International Airport.

Überall Rauchverbot. Nur weit hinter dem Tresen ist eine Ecke für die Süchtigen eingerichtet. Hier ist es im Unterschied zu den Quadratkilometern an Nichtraucherzone "draußen" bumsvoll.

Seltsame Traurigkeit. Ob das nur die 330 km Autofahrt sind? Oder "normales" Runterkommen nach dem gestrigen Höhenflug? Oder sonst was?

Ende Teil 12, die Fortsetzung, Teil 13




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